"Ich hoffe, ich werde gehört!"
"Ich hoffe, ich werde gehört!" | Bild von svklimkin auf Pixabay

„Ich hoffe, ich werde gehört!“ – Putins Kampf mit der Enttäuschung

Russland hat die Ukraine angegriffen. Der Entscheidung liegt eine emotionale Enttäuschung Wladimir Putins zugrunde. Einen Krieg rechtfertigt das nicht.

Russland hat die Ukraine angegriffen. Der Entscheidung liegt eine emotionale Enttäuschung Wladimir Putins zugrunde. Er sagt: „Ich hoffe, ich werde gehört!“ Einen Krieg rechtfertigt das alles nicht.

„Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.“

Das sind Worte Wladimir Putins. Sie stammen aus seiner Rede vom 25. September 2001 im Deutschen Bundestag! Nur wenige Tage nach den Terroranschlägen in den USA. In Putins überwiegend auf Deutsch gehaltenen Rede geht er den Ursachen des Terrors auf den Grund und stellt fest, „dass wir alle daran schuld sind, vor allem wir, die Politiker“.

Putin spricht von einer sich veränderten Welt und alten Wertesystemen. Er bemängelt das fehlende, gegenseitige Vertrauen und die hartnäckigen Gewohnheiten in einem „Count-Down-System zu leben“. Das mache blind für Veränderungen: „Die Welt ist sehr viel komplizierter geworden.“

Die Rede, die es lohnt, sich als Video anzuschauen, zeigt einen jungen, sympathischen, russischen Präsidenten, der mit guten Absichten nach Deutschland gekommen ist. Er gibt zu verstehen, dass Russland die Voraussetzungen für den Mauerfall geschaffen habe, ohne dies den Anwesenden unter die Nase zu reiben.

Ein Europa mit Russland

Demütig spricht der Präsident auch über die Anstrengungen, die sein Land in Bezug zu Reformen unternommen habe, um Russland zu modernisieren. Stolz verkündet er, dass die Sozialausgaben erstmalig in der Geschichte Russlands die Verteidigungsausgaben im Jahr 2002 übertreffen werden.

Wladimir Putin bemängelt allerdings den objektiven Kenntnisstand über sein Land und beteuert: „Das Hauptziel der Innenpolitik Russlands ist vor allem die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit, die Verbesserung des Lebensstandards und der Sicherheit des Volkes.“

Über Uneinigkeiten mit Blick auf die NATO, das Raketenabwehrsystem und die Stationierung von Streitkräften im Baltikum spricht Putin ganz nüchtern. „Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land.“ Generell betont Putin das „Wir“ in seiner Rede und möchte den Blick auf die Herausforderungen der Zukunft wie den Umweltschutz, dem Fundamentalismus und Terrorismus richten.

Kurzum: Putin wünscht sich ein Europa, das mit Russland gemeinsam nach vorne blickt und gemeinsam für Sicherheit auf dem Kontinent und der Welt Sorge trägt.

„Ich hoffe, ich werde gehört!“

In den frühen Morgenstunden des 24. Februars 2022 informierte Präsident Putin in einer Fernsehansprache seine Landsleute über den aus seinen Augen notwendigen Angriff auf die Ukraine. Die Rede offenbart einen völlig anderen Menschen. Was ist in den mehr als 20 Jahren seit dem Auftritt Putins im Deutschen Bundestag passiert?

Putin fühlt sich und sein Land von den NATO-Staaten bedroht und betrogen. Die Ukraine bekommt das jetzt als Nicht-Mitglied der NATO zu spüren: „Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn es ständig von der Ukraine bedroht wird.“

Enttäuschung

Außerdem wendet sich Präsident Putin ist seiner Rede an das nordatlantische Verteidigungsbündnis: „Die NATO hingegen nähert sich den Grenzen Russlands. Moskau versucht seit 30 Jahren, eine Einigung über die Nichterweiterung des Blocks nach Osten zu erzielen, und ist dabei Täuschungen, Druck und Erpressungsversuchen ausgesetzt gewesen.“

Hintergrund ist die sogenannte „Tutzinger Formel“, ein vermeintliches Versprechen des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher aus dem Jahr 1990, dass es zu keiner NATO-Osterweiterung kommen würde. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Außenminister James Baker bekräftigten das Versprechen.

Mittlerweile gibt es im Baltikum drei NATO-Staaten, z.T. mit direkter Grenze zu Russland. 2004 traten außerdem Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien bei. Bereits 1999 schlossen sich Polen, Tschechien und Ungarn dem Bündnis an. Unabhängig davon, wie verbindlich das Versprechen der „Tutzinger Formel“ auch gewesen sein mag, wurde dieses mehrfach gebrochen.

Der Schmerz des starken Mannes

Wladimir Putin ist enttäuscht über die Zusagen des Westens. Russland ist zudem wirtschaftlich und gesellschaftlich vom Westen abgehängt. Trotz der Anstrengungen des jungen Präsidenten Putin, sein Land voranzubringen, hat er es nicht geschafft, erfolgreich Anschluss zu finden. Putin ist heute überzeugt, er und Russland sind das Opfer.

Russland ist in eine gesellschaftliche und ökonomische Perspektivlosigkeit abgerutscht. Putin kann nicht mehr nach vorne schauen, da er sich mit seiner Enttäuschung, der Pein und dem eigenen Schmerz auseinandersetzen müsste.

Gefangen in der Vergangenheit

Deshalb schaut er nach hinten und identifiziert die Täter: „Liebe Kameraden! Ihre Väter, Großväter und Urgroßväter haben nicht gegen die Nazis gekämpft, um unser gemeinsames Vaterland zu verteidigen, damit die heutigen Neonazis die Macht in der Ukraine übernehmen können.“

In Wladimir Putin widerspiegelt sich ein Problem, das die gesamte liberale Welt betrifft. Das Motto, „Jeder ist seines Glückes Schmied“, funktioniert nur für den, der im liberalen System Glück hatte. Putins Verhalten ist stellvertretend für viele, abgehängte Menschen in der freiheitlich-demokratischen Welt, die sich jetzt vernachlässigt und nicht ernst genommen fühlen.

Der Preis der Freiheit, des Fortschritts und der Entwicklung ist die Stärkung der Verantwortung des Einzelnen. Die Abgehängten deklarieren sich als Opfer, weil sie keine Perspektive für sich nach vorne finden.

Der Kampf um Anerkennung

Putin hat recht: Der Westen ist arrogant, hält Versprechen nicht ein und hat Russland nie richtig ernst genommen. Putin sehnt sich nach Anerkennung und Wahrnehmung. Letztendlich ein zentrales Problem unserer freien Welt. Aber auch die Telefonate und Besuche der Staatschefs konnten dieses Bedürfnis nicht befriedigen.

Sich auf Gespräche mit ihnen einzulassen, war vielleicht doch noch mit etwas Hoffnung verbunden, den Schmerz der Vergangenheit lindern zu können. Nur bleibt dem russischen Präsidenten keine Wahl, da er sich bereits mit diesem Schmerz identifiziert und diese Identität nun verteidigen muss.

Nichts davon rechtfertig Putins Handeln! Aber, die emotionalen Mechanismen, die sich bei dem russischen Präsidenten finden, sind auch in unserer freien, offenen Welt vorhanden. Es gibt Menschen, die fühlen sich überfordert mit der Verantwortung für die eigene Freiheit, ihr Leben zu gestalten. Ihnen fehlt die Garantie mit ihrem Handeln auch Erfolg zu haben.

Mechanismen der Identität

Nach Glück, Anerkennung und Perspektive suchende Menschen tummeln sich auf Plattformen wie Instagram und TikTok. Die eigene Krankheit wird dort präsentiert. Es wird gezeigt, man ist das Opfer. Die Menschen buhlen um Rückmeldungen in Form von Likes und Kommentaren, was, unabhängig davon, ob sie konstruktiv oder dekonstruktiv sind, die eigene Rolle bestätigt.

Andere Nutzer fühlen sich dadurch wiederum ermutigt, ebenfalls ihre Enttäuschungen und Hindernisse gegenüber einem gelingenden Leben in unserer freien Welt öffentlich zu machen. Was sie mit dem russischen Präsidenten eint: Sie schauen alle nach hinten! Was ist falsch gelaufen? Wer hat Schuld? Was hätte anders sein müssen, damit ich heute nicht an dieser Stelle bin?

Wladimir Putin spiegelt diese Menschen, die sich in der freien Welt abgehängt und überfordert fühlen. Außerdem ist Putin in einer Welt gefangen, die er sich mit seinen restriktiven, innenpolitischen Maßnahmen und seinen Staatsmedien selbst erschaffen hat. So, wie die verschlossenen Resonanzräume in den Social Media.

Glück und Erfolg

Das System „Kapitalismus“ macht Versprechen, die es nur bei Erfolg einhält. Geschäfte schaffen Freude und Glück, wenn sich das Erfolgsversprechen einstellt. Es gibt aber keine Erfolgsgarantie.

Enttäuschungen über falsche Versprechen sind erlaubt! Die Regeln der freien Welt aber sagen, dass die Verantwortung bei einem selbst liegt, danach weiterzumachen. Die Zusage der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit gilt nicht nur für erfolgreiche Menschen. Auch, wenn in der offenen Gesellschaft dieses Mantra oftmals von den erfolgreichen gepredigt wird.

Es ist offensichtlich, dass die Enttäuschten in unserer freien Welt mit Menschen wie Putin sympathisieren. Putin ist gefangen in seiner Enttäuschung und kann nicht anders. Er verhält sich wie einer, der vor seinen Freunden und der Familie damit droht, sich das Leben zu nehmen.

Schmerz isoliert

Zur Wahrheit gehört leider, dass niemand den tiefsitzenden Schmerz im Leben des anderen verstehen kann. Man kann lediglich Verständnis zeigen und Beistand geben. Diese Optionen hat Putin jetzt verloren. Das Problem ist nicht die freie, demokratische und liberalen Welt, sondern die fehlende Garantie für Glück.

In einer Diktatur ist Glück hingegen überhaupt nicht möglich. Glück und gelingendes Leben ist auf Freiheit angewiesen. Der Corona-Impfstoff Sputnik V war Putins vergeblicher Versuch, Anerkennung in der Welt zu finden. Sein Weg zur Entwicklung dieses Stoffes entspricht aber nicht den Regeln einer frei forschenden Wissenschaft. Darum musste Putin scheitern.

Um Anerkennung in der Öffentlichkeit zu erlangen, muss derjenige, der an der öffentlichen Wahrnehmung partizipieren will, einen Weg der Qualifizierung gehen. Diese Wege sind lang, steinig und oftmals auch in der freien Welt nur denjenigen geebnet, die bessere Voraussetzungen mitbringen.

Kein Recht auf Gewalt

Um es ganz deutlich zu sagen: Es gibt keine Analyse, die Gewalt legitimiert! Wer sich in der freien Welt überfordert fühlt und kein Glück in seinem Leben findet, hat unbegrenzt die Möglichkeit, sich weiterhin für die Freiheit und die persönliche Entwicklung zu entscheiden. Putin hat sich aufgegeben und damit gegen die Freiheit und die Möglichkeit auf Glück gewandt.

Heute sind die Wege in die Öffentlichkeit extrem kurz. Ich kann direkt aus meinem Bett oder sogar aus der Psychiatrie heraus mich an die Öffentlichkeit wenden. In dieser Situation ist das fatal, weil die Reaktionen mich in meiner Position stärken und damit auch die eigene Auseinandersetzung mit meiner Enttäuschung verhindern.

Wladimir Putin hält an seinem Schmerz und an den Enttäuschungen in seinem Leben fest. Sie sind ihm zur Identität geworden. Er bettelt um Aufmerksamkeit und schreit: „Ich hoffe, ich werde gehört!“

Die Demokratien der Welt müssen sich bewusst machen, dass Freiheit Verantwortung bedeutet, aber nicht automatisch eine Garantie für persönliches Glück liefert. Russland hat es nicht geschafft, Kunst- und Meinungsfreiheit als Grundwerte zu etablieren, die auch den Glücklosen eine Chance geben, sich zu entwickeln und ihrem Leben eine Perspektive zu geben.

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