Demokratie in Gefahr
Demokratie in Gefahr | © Martin Bornemeier

Demokratie in Gefahr

Demokratie in Gefahr! Das Internet hat die gesellschaftliche Kommunikation radikal verändert. Sprachsensibilität deutet Toleranz anders.

Demokratie in Gefahr! Das Internet hat die gesellschaftliche Kommunikation radikal verändert. Sprachsensibilität deutet Toleranz anders. Ein Essay.

Die Wissenschaft arbeitet frei und ergebnisoffen. In einer Demokratie wie in Deutschland hat der Staat die Aufgabe, die freie Wissenschaft zu schützen. Jetzt konnte eine Biologin ihren Vortrag an der Humboldt-Universität in Berlin nicht halten.

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Aktivisten kündigten Protest an. Die Biologin wollte darüber sprechen, warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe. Die Universität sagte den Vortrag wegen Sicherheitsbedenken ab. Diese Geschichte schockiert mich und ist Anlass für diesen Essay.

Warum haben wir eine Demokratie?

Mit der Demokratie ist die Überzeugung verbunden, dass es für alle Menschen die beste Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeutet. Demokratie heißt allerdings nicht automatisch, dass sie jedem Menschen das beste Leben garantieren kann.

Um gesellschaftliche und individuelle Vorstellungen vom besten Leben in der Demokratie zusammenzubringen, gibt es unterschiedliche Formen der Kommunikation. Mit der Freiheit ist die freie Wahl dieser Kommunikationsformen gemeint.

Autoren bringen Menschen zusammen

Jedes gesellschaftliche Mitglied fungiert dabei als Autor. Der Autor bringt klassischerweise Menschen zusammen. Es gab bisher keine Technologie, die für sich beansprucht hat, Menschen zusammenzuführen.

Jeder Autor kann sich für seine Kommunikationsform frei entscheiden, wie bspw. für Aufsätze, Nachrichten, Predigten oder auch Formen der Belletristik. Je nach Form ist der Autor dann Wissenschaftler, Journalist, Priester oder Romanautor.

Die Zugänge zu diesen Kommunikationsformen werden von den jeweiligen Institutionen innerhalb der Demokratie kontrolliert. Ein Wissenschaftler oder Priester braucht eine bestimmte Ausbildung. Ein Journalist oder Romanautor braucht diese nicht zwangsläufig, er ist abhängig von seiner Leserschaft.

Die Idee und der Essay

Eine weitere, mir persönlich sehr wichtige Kommunikationsform, ist der Essay. Essays werden bspw. von Philosophen geschrieben. Bei einem Essay steht die Idee bzw. der Gedanke im Vordergrund.

Der Autor eines Essays braucht sich keinen wissenschaftlichen, journalistischen, exegetischen oder dramaturgischen Kriterien zu unterwerfen. Das bedeutet nicht, dass er sich etwas beliebig ausdenken kann. Der Essay ist vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken, die der Autor mitteilen will, um die Einsamkeit seiner Gedanken zu überwinden.

Institution und Wahrheit

Jede der genannten Kommunikationsformen hat im Kern immer auch mit Wahrheit zu tun. Die Kriterien für die Anerkennung des Wahrheitsgehaltes kommt von der jeweiligen Institution.

Für wissenschaftliche Aufsätze sind es der wissenschaftliche Diskurs und die wissenschaftliche Methode. Bei Nachrichten und anderen journalistischen Formaten kommen Verifikation und Fairness zum Tragen. Die Exegese eines Priesters wird durch die Kirche kontrolliert. Und Belletristik durch die Ästhetik.

Die Form geht verloren

In einer Demokratie kann sich jeder unabhängig von seinem Bildungsgrad eine Meinung zu den Inhalten der einzelnen Kommunikationsformen bilden. Die eigene Meinung bedeutet dabei nicht Wahrheit, sondern zeigt die persönliche Toleranz der eigenen Haltung gegenüber der präsentierten Wahrheit.

Toleranz ist die Fähigkeit Wahrheit zu ertragen bzw. Intoleranz Wahrheit zu leugnen. Toleranz bedeutet nicht automatisch dem Zustand dieser Wahrheit zuzustimmen. Wenn ein Arzt nach seiner wissenschaftlichen Expertise mir die Diagnose Krebs gibt, dann kann ich diese Diagnose tolerieren, bspw. aber nicht akzeptieren.

Mit der Entwicklung des Internets und den Social Media ist der Kommunikation ein Vorrang gegenüber Institutionen eingeräumt worden. Begriffe wie „Fake News“ sind leicht auch auf Exegese oder Essays anwendbar, Belletristik und Meinung kann als Nachricht verkauft werden. Die bisher bekannten Kommunikationsformen innerhalb der Demokratie gehen verloren.

Die Macht der Schrift

Eine besondere Form der Kommunikation in der Demokratie ist das Gesetz. Juristische Texte definieren klare Grenzen. Ob Grenzen eingehalten oder überschritten worden sind, klärt ein Gericht.

Das Gesetz in einer Demokratie ist nicht starr, sondern wird kontinuierlich erweitert, angepasst oder überarbeitet, um der gesellschaftlichen Entwicklung gerecht werden zu können. Der Gesetzgeber trägt dabei die Verantwortung, Gesetze zu verabschieden, die das gesellschaftliche Leben verbessern.

Das Gesetz richtet sich dabei an die Gesellschaft als Ganzes und nicht an das Glück des Einzelnen. Die Demokratie soll möglichst vielen Menschen ermöglichen, ihr persönliches Glück zu finden. Eine Garantie für Glück liefert es nicht.

Dilemmata

Das Leben ist gekennzeichnet von Dilemmata. Wer glücklich ist, dem kann Unglück widerfahren. Persönliche Anstrengung ist kein Garant für persönliches Glück. Gesellschaftliche Regeln können daher nur die Wahrscheinlichkeiten für ein glückliches Leben jedes einzelnen erhöhen, nicht aber, Dilemmata auflösen.

Ein interessantes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Abschaffung des Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs. Dieses Gesetz verbot die Werbung für den Abbruch von Schwangerschaften. Das hatte zur Folge, dass Ärzte nicht einmal darüber informieren konnten, dass sie Abbrüche vornehmen.

Die Streichung des Paragrafen 219a ist richtig, da sie Ärzten mehr Freiraum gibt, über entsprechende Behandlungen zu informieren, sie gleichzeitig aber nicht dazu verpflichtet. Insgesamt werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geändert und somit das Ausloten des persönlichen Handlungsspielraums erleichtert.

Dennoch finde ich es alarmierend, die notwendige Streichung dieses Paragrafen als Befreiung zu feiern. Denn das Dilemma rund um die Frage eines Schwangerschaftsabbruchs verschwindet damit nicht. Die Streichung zu feiern, erweckt den Eindruck, dass damit auch das Dilemma verschwindet. Wenn das Dilemma verschwindet, verschwindet damit auch die Toleranz, das Ertragen und Aushalten von Widersprüchen.

Die Freiheit der Kommunikation

Freiheit in der Demokratie bedeutet nicht, das frei sein von Dilemmata oder das frei sein von Fragen über den Sinn des Lebens. Die Demokratie gesteht jedem die Freiheit, Dilemmata und seine Fragen über den Sinn des Lebens zu kommunizieren.

Insofern könnte man denken, dass die Social Media einen wichtigen Beitrag zur kommunikativen Demokratie beitragen. Allerdings sind die Social Media nicht über die heilige Ordnung, die Hierarchie der Institutionen, geordnet, sondern privatwirtschaftlich.

In der Demokratie werden die Zugänge zur Öffentlichkeit und damit zur Gestaltung der Institutionen über Qualifikationen eröffnet. Anders als in einer feudalen Gesellschaft sind dabei nicht Herkunft, sondern Bildung bzw. Qualifikationen entscheidend.

Machtverschiebung

Die freie Verfügbarkeit von Informationen ist zunächst einmal ein hohes, demokratisches Grundrecht. Internetkonzerne wie Google greifen in dieses Gut allerdings ein. Was relevant ist, entscheidet der Konzern und nicht die gesellschaftlich gewachsenen Strukturen und Institutionen.

In der Demokratie sind die feudalen Hierarchien als heilige Ordnung der Gesellschaft in eine systematische Hierarchie übergegangen. Die technische Hierarchie der Informatik stellt jetzt die systematische Hierarchie der Demokratie in Frage.

Sprachsensibilität als Placebo

Einerseits wird die Marktmacht von Informations- und Kommunikationsdiensten wie Facebook und Google hingenommen. Andererseits wird versucht auf die Sprache einzuwirken, um sie gerechter zu machen.

Der Druck, der auf die Sprache ausgeübt wird, ist als Ausweichziel zu deuten, um auf institutionelle Strukturen Einfluss nehmen zu können, da das eigentliche Ziel, die technische Hierarchie, sich in einer exklusiven Blase der Informatik von klassischen institutionellen Konstituierungsritualen abkoppelt.

Unabhängig der persönlichen Bewertung von Veränderungen der Sprache, hat sich längst eine feudale Hierarchie mit binärer Sprache in Form der Programmiersprache durchgesetzt. Der Wunsch nach Anpassung institutioneller Konzeptionen innerhalb unserer Demokratie mittels Sprache ist daher maximal ein Placebo.

Demokratie in Gefahr

Die Gefahr für die Demokratie besteht im Kern darin, dass die Toleranz gegenüber Dilemmata verschwindet. Die Menschen entwöhnen sich buchstäblich der Fähigkeit des Aushaltens von Widersprüchen. Toleranz wird umgedeutet und als Lösung präsentiert. Aus Angst vor Sprachlosigkeit geben Institutionen wie die Humboldt-Universität ihre Funktion der Diskurswahrung auf.

Es entsteht Druck zur Positionierung. Überforderung der Menschen treibt Radikalisierung, Polarisierung und Fundamentalisierung voran. Politische und spirituelle Akteure liefern Lösungsangebote, in die die Menschen von vermeintlichen Freiheits- und Toleranzkämpfern getrieben werden.

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