Das Virus und seine Bedeutung | Bild von PIRO auf Pixabay

Das Virus und seine Bedeutung

Das Virus und seine Bedeutung für uns Menschen wird vor allem durch unsere Lebensweise bestimmt.

Das Virus und seine Bedeutung: Das neuartige Coronavirus stellt das weltweite Leben auf den Kopf. Die Realität des Virus offenbart Systemfragen.

Ein häufiger Satz, der in den vergangenen Wochen immer wieder gesagt wurde, bewegt mittlerweile zum Weghören: „Das Coronavirus breitet sich weiter aus.“ Diese allgemeine Floskel macht es erforderlich, darüber nachzudenken, was dieses Virus ist und was es denn überhaupt macht.

Das Virus

Viren haben zunächst einmal keinen eigenen Stoffwechsel und brauchen für ihre Vermehrung lebende Zellen. Ein Viruspartikel wird „in freier Wildbahn“ als Virion bezeichnet. Virionen sind 20-300 nm groß und können gefiltert, nicht aber mit einem Lichtmikroskop gesehen werden. Ein Virion enthält Nukleinsäure (entweder als DNA oder RNA) und ist somit ein Transporter von Geninformationen.

Diese Informationen werden dann von den lebenden Zellen mit Stoffwechsel übernommen. Die Funktion der Zelle wird umprogrammiert, was schließlich die entsprechende Krankheit zur Folge hat. Viren sind vielfältig und auf unterschiedliche Wirtszellen spezialisiert.

Es gibt vielzählige Arten von Viren, die unterschiedliche Krankheiten hervorrufen. Influenzaviren (Grippe), Retroviren (AIDS) oder eben auch Coronaviren (SARS/Covid-19). Zur Identifikation des Virus wird es u.a. mittels Elektronenmikroskops sichtbar gemacht und die DNA untersucht. Neben dieser direkten Identifikation gibt es auch den indirekten Weg über den Nachweis von Antikörpern im Wirtsorganismus. (Vgl. Stöcker/Krüger 2019: 2451)

Bei der genaueren Betrachtung des Virions wird deutlich, dass ein Virus selbst ein völlig passives Teil ist. Das Virus ist sowohl in seiner Ausbreitung als auch bei seiner gefährlichen Wirkung völlig abhängig. Damit breitet sich das Virus nicht aus, sondern lässt sich verbreiten.

„Viren müssen das Andere (z.B. die Zelle) ‚begehren‘, um das sein zu können, was sie sind. Darin ist ihre Virulenz zu sehen. Virulenz ist somit von der Praxis der Anerkennung des Anderen nicht zu trennen. Die prekäre Folge dieser Praxis besteht darin, dass das Virus dadurch aber immer auch den Kosmos, d.h. die Ordnung seiner selbst und die der anderen verändert.“

(Schillmeier/Pohler: 337)

Das Virus als kleines, passives Teil erreicht die Menschen in ihrer Gesamtheit und schafft Raum zur Selbstreflexion. Der Einzelne ist vom Virus betroffen, die Weltgemeinschaft, zu der jeder Einzelne gehört, von der Pandemie.

Die schlimmste Pandemie aller Zeiten

Krankheiten wie Malaria lassen sich räumlich eingrenzen und bilden einen Dauerzustand. Sie werden als Endemie bezeichnet. Bei einer Epidemie tritt eine Krankheit räumlich und zeitlich begrenzt auf. Im Gegensatz dazu gibt es bei einer Pandemie keine räumliche Begrenzung.

Pandemien sind gegenüber Epidemien sehr selten und kommen alle 10 bis 50 Jahre vor. Seit dem 16. Jahrhundert werden sie erfasst. So kommen für die letzten 400 Jahre mindestens 31 Pandemien zusammen. (Vgl. Behrens: 10) Die aktuelle Pandemie mit Sars-CoV-2 wäre demnach Nummer 32. Im 20. Jahrhundert gab es bspw. drei Pandemien mit Influenzaviren.

Eine von ihnen war die „Spanische Grippe“ von 1918-1920. Es war die schlimmste Pandemie der Geschichte und hatte mit mindestens 50 Millionen Opfern mehr Tote als der erste Weltkrieg. (Vgl. Behrens: 13) Die meisten Todesfälle dieser Pandemie betraf die junge Altersgruppe von 15 bis 35 Jahren. Insgesamt waren 99 Prozent der Toten unter 65 Jahre alt. (Vgl. Behrens: 13)

Ab Januar 1918, dem letzten Kriegsjahr, begannen die Soldaten an der Spanischen Grippe zu sterben. Die Front als epidemiologisches Epizentrum der Influenza ist für den Autor Yuval Noah Harari kein Zufall: „Die Kriegsfront war der Endpunkt des effizientesten globalen Versorgungsnetzwerks, das die Welt bis dahin gesehen hatte.“ (Harari: 21) Eine Pandemie hängt vom globalen Zusammenwirken der Menschen ab.

Allerdings scheint es aus heutiger Sicht verwunderlich, dass in Deutschland damals keinerlei Maßnahmen im öffentlichen Leben ergriffen wurden, um die Verbreitung zu verhindern. „Während viele Ärzte die Schließung zur Seucheneindämmung forderten, bemühten sich die Kommunen, die ohnehin geschwächte Moral hinter der Front nicht noch weiter durch Theaterschließungen zu senken.“ (Fangerau: 1409)

Der Krieg war wichtiger als die Pandemie, das nationalstaatliche Denken stand im Vordergrund. Und ironischer Weise verdankt das am Krieg unbeteiligte Spanien die Bezeichnung als „Spanische Grippe“ seiner weniger restriktiv geregelten Kommunikation in der Öffentlichkeit. Spaniens Ärzte konnten unabhängiger von Zensur, öffentlichkeitswirksamere Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche ergreifen. (Vgl. Fangerau: 1409)

Die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts

Die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts geht wie die aktuelle Pandemie auf das Konto von Coronaviren. Von Ende 2002 bis August 2003 gab es weltweit mehr als 8000 Erkrankungen und über 700 Todesfälle durch das SARS-assoziierte Coronavirus (SARS-CoV). (Vgl. Berger/Drosten/Doerr/Preiser: 42)

Eine besondere Eigenschaft von SARS war seine schnelle Ausbreitung über den Globus. Eine der Hauptgründe dafür sei gewesen, dass Infizierte auf Reisen gegangen sind, weil sie sich anfangs noch gesund genug fühlten und erste Symptome mit einer Erkältung verwechselten. (Vgl. Berger/Drosten/Doerr/Preiser: 43)

Anders als bei der Spanischen Grippe starben an SARS hauptsächlich ältere Menschen. Die Hälfte der Infizierten, die älter als 64 Jahre waren, erlagen der Krankheit. Bei Menschen im Alter von 25 und 44 Jahren kamen 6 Prozent und von 45 bis 64 Jahren 15 Prozent der Erkrankten um. (Vgl. Berger/Drosten/Doerr/Preiser: 47)

Interessant an der SARS-Pandemie von 2002/2003 ist auch seine präzise Aufarbeitung. So ließ sich folgendes Rekonstruieren: Ein 64jähriger Arzt aus der chinesischen Provinz Guangdong, wo die ersten SARS-Fälle auftraten, bezieht ein Zimmer auf der 9. Etage des Hotels Metropol in Hongkong. Obwohl er zuvor auffällige Patienten behandelt und selbst gesundheitliche Probleme hatte, ging er die Stadt besichtigen. Weitere internationale SARS-Fälle lassen sich auf diese 9. Etage des Hotels zurückführen. (Vgl. Berger/Drosten/Doerr/Preiser: 50)

Gegenüber der Spanischen Grippe erhält die SARS-Pandemie eine viel persönlichere Note. Und obwohl viel weniger Opfer zu beklagen sind, hat diese Pandemie Systemfragen hervorgerufen:

„SARS hat nicht nur Menschenleben gekostet; der Migration von SARS ist es auch gelungen, zum einen lokale wie globale gesellschaftliche Praktiken zu verunsichern, zu verändern und neu zu konstituieren, und zum anderen die tradierten Beobachtungs-, Erklärungs- und Interpretationsmuster gesellschaftlicher Zusammenhänge fragwürdig erscheinen zu lassen.“

(Schillmeier/Pohler: 332)

Pandemien haben unterschiedliche Intensität, Gefährdungsgruppen und Folgen für das öffentliche Leben. Sie zeigen die Relativität von Zahlen und erinnern an den Zweifel gegenüber unserer Auffassung von Zukunft. Das betrifft insbesondere eine durch die Wirtschaft verbundene Weltgemeinschaft.

Die Lehren der Geschichte

Mit Zunahme der Mobilität sei im vergangenen Jahrhundert die Menschheit immer empfindlicher für Epidemien geworden. (Vgl. Harari: 22) Sowohl die Spanische Grippe als auch die SARS-Pandemie haben gezeigt, wie das menschliche Zusammenleben sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten anfällig für die Verbreitung ansteckender Krankheiten ist.

Ein wesentlicher Unterschied bei diesen beiden Beispielen, Spanische Grippe und SARS, ist die Transparenz in der Kommunikation: „Der Kriegszustand sorgte für eine Verdrängung der Seuche, eine öffentliche Diskussion über sie fand nicht statt und war auch nicht erwünscht.“ (Fangerau: 1410) Und auch in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg hatte sich zunächst niemand für eine Aufarbeitung interessiert.

„Zuletzt scheint die Spanische Grippe darüber hinaus lange Zeit bewusst vergessen worden zu sein, da es im Zusammenhang mit ihr weder von ärztlicher, noch von wissenschaftlicher, noch von öffentlicher Seite Rühmliches zu berichten gab. Niemand hatte ein Interesse daran, diese Epidemie lange im öffentlichen Bewusstsein zu bewahren. Ihre Geschichte ist eine Geschichte voller Vertuschungen, Fehlschlägen, Irrtümern und Erschütterungen sicher geglaubter Erkenntnisse.“

(Fangerau: 1409)

SARS sei hingegen seinerzeit als globale Gefahr wahrgenommen worden. Durch seine Überschreitung von Grenzen wurde es zu einer globalen Angelegenheit, die das individuelle Leben betraf und ordnende Gesellschaftssysteme in Frage stellte. (Vgl. Schillmeier/Pohler: 331) Anstatt die Gefahr zu ignorieren gab es hier eine anfängliche Offenheit darüber, Schwächen im System anzuerkennen. Denn die Reaktion auf SARS verdeutliche die Grenzen der Entscheidungsprozesse im gesellschaftlichen System. (Vgl. Schillmeier/Pohler: 341)

Zum anderen wird die Öffentlichkeit bei Entscheidungen wahrgenommen und frühzeitig informiert. Für die Kommunikation sei besonders die Mitteilung von Informationen zur Gesundheit und die Schaffung von Transparenz im Pandemiemanagement bedeutsam. (Vgl. Schröder-Bäck/Sass/Brand/Winter: 195)

Zusammenhalt einer Weltgemeinschaft

Menschliche Kooperation gelingt besonders gut, wenn alle Beteiligten profitieren. Das Wirtschaftssystem funktioniert bspw. auch über Länder- und Ideologiegrenzen hinweg, wenn Geld verdient werden kann. Die internationalen Regeln für die Handhabung infektiöser Krankheiten hätten traditionell das Ziel, Maßnahmen zum Infektionsschutz minimal zu halten, um wirtschaftliche Rückschritte zu vermeiden. (Vgl. Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2013: 176)

Es erscheint zynisch, dass sich erst existentielle Fragen für einen selbst stellen müssen, bevor die Fragen auf das vorhandene System gelenkt werden können.

„Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierungsdebatte, die internationale Beschleunigung und krisenhafte Interdependenz betont, werden Gefahrenherde wie Finanzspekulationen oder Infektionskrankheiten zunehmend als global und zugleich rasant wahrgenommen.“

(Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2013: 172)

Der Wille zum politischen Handeln vermag aktuell keine Grenzen mehr zu kennen. Eine existentielle Bedrohung erfordere auf Grund ihrer hohen Priorität raschere politische Entscheidungen als in üblichen Verfahren. (Vgl. Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2013: 172)

Dabei werden temporär auch liebgewonnene Freiheitsrechte tangiert. „Maßnahmen wie die Einschränkung des Flug- und Reiseverkehrs, die Isolierung ganzer Städte oder Stadtteile greifen zutiefst in gewohnte Kommunikations- und Kooperationsformen ein.“ (Schröder-Bäck/Sass/Brand/Winter: 192)

Wichtig ist, dass auch unabhängig des Krisenmodus die Entscheidungen eine Rechtfertigung verlangen: „Jede Modifizierung oder ihre Unterlassung muss sich nachträglich rechtfertigen lassen, sofern sie nicht vom allgemeinen Menschenverstand her unmittelbar einsichtig ist.“ (Schröder-Bäck/Sass/Brand/Winter: 192)

Das Virus und seine Bedeutung

Das Virus zeigt seine Bedeutung auf unterschiedlichen Ebenen. Auf individueller Ebene ergibt sich primär die Angst vor der Infektion mit dem Virus und der möglichen Krankheit. Sekundär hat der Mensch Angst vor den indirekten Folgen der Pandemie, wie bspw. die abstrakte Angst vor Versorgungsengpässen. Das Problem ist plötzlich nicht mehr das Virus, sondern das individuelle Verhalten im Umgang mit der Angst. Nicht ein tatsächlicher Kriegszustand führt zu Engpässen, sondern die egoistischen Hamsterkäufe. An dieser Stelle wird deutlich, dass das passive Virus den Menschen aktiv werden lässt, auch wenn viele erstmal nur unmittelbar betroffen sind.

Auf nationaler Ebene sind die politischen Entscheidungsträger gefordert, schnell und angemessen zu reagieren. Neben dem Schutz vor der Ausbreitung steht die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft an vorderster Stelle. Die Zukunft ist in einem von Wirtschaft dominierten System untrennbar mit dem Wachstum verbunden. Die Pandemie stellt in diesem Zusammenhang keine biologische Kritik unserer offenen und globalen Lebensweise dar, sondern ist als eine Kritik an unserem Verständnis von Zukunft und der Wachstumsgläubigkeit zu verstehen.

Das Virus versinnbildlicht auf internationaler Ebene die Relativität unserer gewachsenen Weltgemeinschaft. Das Virus bedroht alle, indem es nicht alle betrifft. Das Virus greift einzelne Risikogruppen an, die zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich sind. Es trifft die wunden Stellen der gesellschaftlichen Struktur.

In der Geschichte hat es zwar bisher kein einziges Virus geschafft, die Menschheit auszulöschen, trotzdem rüttelt gerade das aktuelle Virus an den menschlichen Selbstverständlichkeiten. Für heute sollte daher die individuelle Rücksichtnahme zur Selbstverständlichkeit werden. Für die Zukunft wäre wünschenswert, mit derselben Selbstverständlichkeit, Selbstverständlichkeiten zum Wohle aller zu hinterfragen.

Literatur

Behrens, Doris, Influenza Report – Deutsche Ausgabe, 2006.

Berger, Annemarie/Drosten, Christian/Doerr, Hans W./Preiser, Wolfgang, Das SARS-assoziierte Coronavirus. Die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts, in: J Lab Med 28 (2004) Nr. 1, 42-55.

Fangerau, H., Zu Paläopathologie und Geschichte der Medizin. Das Beispiel der Influenzapandemie, in: Der Urologe. Ausg. A 49 (2010) Nr. 11, 1406-1410.

Hanrieder, Tine/Kreuder-Sonnen, Christian, Souverän durch die Krise: Überforderte Staaten und die (Selbst-)Ermächtigung der WHO, in: Daase, Christopher/Engert, Stefan/Junk, Julian (Hg.), Verunsicherte Gesellschaft – überforderter Staat. Zum Wandel der Sicherheitskultur 2013, 169-186.

Harari, Yuval Noaḥ, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2018.

Schillmeier, Michael/Pohler, Wiebke, Kosmo-politische Ereignisse. Zur sozialen Topologie von SARS, in: Soziale Welt 57 (2006) Nr. 4, 331-349.

Schröder-Bäck, P./Sass, H-M/Brand, H./Winter, S. F., Ethische Aspekte eines Influenzapandemiemanagements und Schlussfolgerungen für die Gesundheitspolitik. Ein Überblick, in: Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 51 (2008) Nr. 2, 191-199.

Stöcker, W./Krüger, C., Viren, in: Gressner, Axel M./Arndt, Torsten (Hg.), Lexikon der Medizinischen Laboratoriumsdiagnostik (Springer Reference Medizin), Berlin, Heidelberg 2019, 2451-2452.

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