Biden ist doch ein Satanist
Biden ist doch ein Satanist | © Martin Bornemeier

„Biden ist doch ein Satanist“

"Biden ist doch ein Satanist", sagte sie plötzlich. Und ich war mir nicht sicher, ob ich erschrocken war oder direkt loslachen sollte.

Die Demokratie funktioniert, Joe Biden wird neuer US-Präsident. Das Problem ist die eigene Wahrnehmung. Ein etwas zynischer Erfahrungsbericht als Wahlhelfer bei der Kommunalwahl in Köln.

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Noch nie habe ich Demokratie so intensiv erlebt, wie in den vergangenen 12 Stunden. Mein Einsatz als Wahlhelfer bei der Kommunalwahl in Köln führte mich am frühen Sonntagmorgen in eine Grundschule im Osten der Stadt. Es war schon ein Ärgernis als mein Wecker klingelte. Ich wollte am liebsten mal einen Sonntag ausschlafen.

Um 7:30 Uhr war das Treffen des Wahlvorstandes im zugewiesenen Wahlraum für den Stimmbezirk. Da die Zustellung der Ernennungsurkunden als Beisitzender bei mir und anderen nicht erfolgte, sollten sie vor Ort aus dem „blauen Ordner“ ausgegeben werden. Ich gebe zu, ich hatte den über 50 Seiten umfassenden „Leitfaden für die Urnenwahlvorstände“ am Abend zuvor nur kurz überflogen. Es gab schließlich auch noch eine Schriftführerin und einen Wahlvorsteher.

Ich betrat also das Klassenzimmer, wo bereits andere Wahlhelfer warteten. (Wahlhelfer ist in diesem Fall richtig, da bei meinem Eintreffen noch keine Wahlhelferinnen anwesend waren.) Die Tische waren bereits so weit aufgestellt, drei Wahlurnen, zwei Wahlkabinen und der Koffer mit den Materialien waren vorhanden.

Kommunalwahl und Corona

Die Schriftführerin kam etwas verspätet. Sie hatte den „blauen Ordner“ dabei. Alle trugen einen Mundschutz. Sie nicht. Dafür hatte sie eine schwarze, enge Latexhose an, die etwas mehr als dreiviertel lang war, sodass man die darunter befindliche Strumpfhose mit Laufmaschen sehen konnte. Sie streckte die Hand zur Begrüßung aus. Der ältere Herr, den ich später als den Mathematiker bezeichne, reckte den Ellenbogen zur Corona-Begrüßung entgegen. Die anderen taten es gleich.

Mittlerweile war der Wahlvorstand komplett. Acht Personen, davon ein Wahlvorsteher und eine Schriftführerin. Insgesamt waren wir vier Frauen und vier Männer unterschiedlichen Alters. Die Schriftführerin und der Wahlvorsteher signalisierten ihre Erfahrungen bei Wahlen. Sie hatten das beide schon öfters gemacht und waren auch zu den Schulungen gewesen, die im Vorfeld der Wahl angeboten worden waren. Auch ich hätte dahin gehen können. Es war keine Pflicht, ich habe einfach keine Zeit gehabt.

Arbeitslose als Wahlhelfer

Mit einer Viertelstunde Verspätung waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Stimmzettel-Muster waren ausgehängt sowie die amtliche Wahlbekanntmachung. Die Ausschilderung zum Wahlraum war bereits angebracht worden. Ich nahm zunächst ohne besondere Funktion an der Seite Platz. Jetzt hatte ich auch Zeit, mir ein genaueres Bild der verschiedenen Charaktere im Raum zu machen.

Der Wahlvorsteher war ein junger Mann Ende 20. Von Beruf Schauspieler. Blasses Gesicht, dafür redselig. Die bemerkenswerteste Rolle, die er abgelehnt hatte, hätte ihn in ein SM-Studio geführt. Das mit dem Maske tragen, wäre für ihn kein Problem gewesen. Aber die Rolle hat er nicht genommen. Generell erzählte er auch eher über die Dinge, die er nicht gemacht hat, als über die, die er machte. Zurzeit war er arbeitslos. An irgendeiner Stelle seiner Erzählungen fiel auch ein Satz wie „und dann kam Corona“. Zur Vereinfachung möchte ich den arbeitslosen Schauspieler gerne den Vampir nennen. Jetzt sollten Sie ein stereotypes Bild vor Augen haben. Mit seiner Arbeitslosigkeit ist er aber auch nicht allein. Es gab da ja noch die Schriftführerin.

Stadtteil mit gewissen Vorzügen

Bevor ich Ihnen etwas über die Schriftführerin mit Latexhose erzähle, möchte ich Ihnen noch etwas die Umgebung beschreiben. Die Architektur dieses Stadtteils ist geprägt von rechten Winkeln. Wohnraum wird in der beliebten Quaderform bereitgestellt. Schrägen und Rundungen, bis auf die einzelner Personen, sind nicht vorgesehen. Das Klassenzimmer hätte es in dieser Form auch vor 30 Jahren schon so geben können, bis auf den Projektor direkt über dem Whiteboard, der ein wenig wie ein Fremdkörper in dem Raum wirkte.

In diesem Raum saßen jetzt zwei Schülerinnen, von denen eine gerade ihr Fachabi machte und eine andere, die gerade einen „Corona-Abschluss“ gemacht hat. Dann noch eine Hausfrau im Rentenalter mit roten Haaren und einer Brille mit dicken Rändern, der Ehemann einer Türkin, der Mathematiker, der Vampir, ich und die Latexhose.

Es war kurz nach 10 Uhr und wir hatten 11 Wählerinnen und Wähler gehabt. An diesem Sonntag wurde neben der Kommunalwahl auch der Integrationsrat gewählt. In der Summe kam es also vor, dass wir bis zu vier Stimmzettel ausgaben. Einen für die OberbürgermeisterIn-Wahl, einen für die Ratswahl, einen für die Bezirksvertretungswahl und eben einen für die Integrationsratswahl. Wann, wer, mit welchem Nachweis wählt, wusste die Latexhose. Also hätte sie wissen müssen. Denn sie war in der Schulung gewesen. Ich fragte lieber nicht nach. Der Mathematiker gab bekannt, dass die Wahlbeteiligung unseres Stimmbezirks derzeit bei etwa 2 Prozent lag.

Zeitverschwendung

Es war ein sehr ruhiger Vormittag. Es war ein langweiliger Vormittag. Die Anwesenden begannen zu reden. Die Latexhose ist bald Mitte 40 und lebt seit Jahren von Hartz IV. Im Übrigen erwähnte sie, dass das Erfrischungsgeld diesmal nicht wie normal am Ende bar ausgezahlt werde, sondern überwiesen wird. Aber das könne sie nach 18 Uhr ja nochmal verkünden. Sie bekomme im Übrigen mehr, weil sie ja auch die Schulung gemacht habe.

Der Mathematiker begann aus Langeweile weitere Dinge auszupacken. In dem Wahlkoffer war auch eine extra Corona-Tüte mit dabei. Desinfektionsmittel hatten wir schon ausgepackt, die Schutzmasken und die Visiere hatten wir übersehen. Der Mathematiker baute einen der Visiere auf. Dieser war allerdings so milchig, dass man damit hätte auch ein Badezimmer blickdicht machen können.

Von der Latexhose kam nur eine abfällige Bemerkung. Sie war nach wie vor die einzige Person im Raum, die keine Maske trug. Aber das war auch nicht so schlimm, denn sie war unfassbar verschnupft und hustete zwischendurch sehr stark. Die benutzten Taschentücher lagen neben ihr am Boden. Gut, dass sie auch die Unterlagen der Wählenden entgegennahm und sie ihnen auch wieder zurück in die Hand gab. Corona komme eh von den Chemtrails. Oder haben Sie etwa noch nie was von Geoengineering gehört?

Große Entdeckungen

Der Vampir hatte mittlerweile auch ein Visier zusammengebaut. Das Visier in seiner Schauspielschule sei besser. Dann machte der Vampir eine interessante Entdeckung. Auf dem Plastikschirm des Visieres befand sich eine Folie, die mit etwas Knibbelei abzulösen war. Das verbesserte die Sicht ungemein. Ein Badezimmer konnte man damit nicht mehr blickdicht machen. Aber mit dem Visier der Schauspielschule war es immer noch nicht vergleichbar.

In was für einen Haufen war ich da hineingeraten? Im Prinzip ödete mich das alles einfach nur an. Es war Zeitverschwendung. Und Zeit für eine Mittagspause.

Nachdem ich aus der Mittagspause zurückgekehrt war, übernahm ich die Vertretung der Schriftführerin. Ich ging das Wählerverzeichnis durch. 1918 war der älteste Jahrgang, es gab gut eine Handvoll über 100-jährige.

Begriffsnazi

Als Schriftführer fühlte ich mich darin bestätigt, Wert auf die Begrifflichkeiten zu legen. Die Begriffe Wahlvorstand, Wahlbrief, Wahlschein und Stimmzettel wurden bunt durcheinander benutzt. Besonders aufgeregt hatte mich das Missverständnis beim Gebrauch des Begriffs Wahlvorstand. Ich als Beisitzer gehöre auch zum Wahlvorstand. Für die anderen in der Gruppe war aber nur der Wahlvorsteher der Wahlvorstand. In dem Schreiben zur „Ernennung zum Beisitzer“ bin ich aber zum „Beisitzer des Wahlvorstandes“ ernannt worden. Außerdem wird in diesem Schreiben davon geredet, dass zur Auszählung „mindestens fünf Mitglieder des Wahlvorstandes anwesend sein“ müssen.

Weniger Denken hätte mich vor eigener Verwirrung geschützt. Aber auch darüber hinaus war das Lesen des Leitfadens für die Urnenwahlvorstände eine schlechte Strategie, mich in den demokratischen Prozess einzubringen. Ein Großteil der Stimmabgaben hätte verweigert werden müssen, weil viele Wählende die Wahlkabine ohne gefalteten Stimmzettel verlassen hatten. Das Falten des Stimmzettels außerhalb der Wahlkabine und die Erkennbarkeit der Stimme sind „Zurückweisungsgründe“. Mit mir als Wahlvorsteher des Wahlvorstandes hätte wohl Keiner Spaß gehabt und es wäre trotz der geringen Wahlbeteiligung vor unserem Wahlraum zu langen Schlangen gekommen.

Rechtsruck

Die Latexhose war mittlerweile aus der Pause zurückgekehrt und ich konnte meine Beobachterposition an der Seite wieder einnehmen. Die Latexhose hatte die erstaunliche Fähigkeit, auf den ersten Blick zu erkennen, wer zur Integrationsratswahl kam. Wenn sie dann einmal falsch lag, wunderte sie sich über ihre Fehleinschätzung.

Zur weiteren Stärkung hatte die Latexhose eine Packung Milchschnitten dabei. Sie aß auch direkt zwei hintereinander. Da der Vampir gerade in der Pause war, hatte die Hausfrau seinen Platz als Wahlvorsteher vertretungsweise eingenommen. Gestärkt mit den Milchschnitten im Magen, versuchte die Latexhose einen Vorstoß. Trump habe ja die Fehler von Obama rückgängig gemacht. Die Hausfrau stieg sofort darauf ein und erwiderte, ob sie denn auf die AOK verzichten wolle. Ne, das wollte die Latexhose natürlich nicht.

AfD und Holocaust

Aber „Biden ist doch ein Satanist!“, kam als nächster Versuch. Wo war ich denn hier gelandet, ging mir als Frage durch den Kopf. Zwischen der Hausfrau und der Latexhose wurde es lauter. Ich kann mich auch nicht an das Gegenargument der Hausfrau erinnern. Ich glaube auch nicht, dass dieser Streit als Diskussion klassifiziert werden konnte. In dieser hitzigen Verbalaktion kristallisierte sich schließlich auch eine gewisse Sympathie der Latexhose für „alternative“ politische Konzepte heraus. Als der Hausfrau das klar wurde, machte sie ihrem Entsetzen Luft und fragte die Latexhose, wie man denn dieser Partei etwas abgewinnen könne und ob denn nichts aus dem Holocaust gelernt worden wäre.

Man könne nicht immer die AfD mit dem Holocaust in Verbindung bringen, antwortete die Latexhose. Und außerdem seien andere Parteien auch nicht wirklich besser. Die Grünen seien zum Beispiel für Pädophilie. Und generell sei Pädophilie ja in diesen oberen Kreisen ziemlich normal.

Auszählung

Um 18 Uhr hätte der Vampir in seiner Funktion als Vorsteher des Wahlvorstandes den Wahlvorgang für beendet erklären müssen. Das hat er nicht, die Hausfrau hatte es eilig und wollte direkt die erste Urne zum Auszählen öffnen. Ich nahm den Leitfaden für die Urnenwahlvorstände zur Hand und las die genaue Prozedur vor. Nach meiner Wahrnehmung eigentlich die Aufgabe des Wahlvorstehers, der hielt sich aber zurück. Wir öffneten die erste Urne und schütteten den Inhalt auf die in der Mitte zusammengestellten Tische.

Die Hausfrau wollte direkt loslegen und die Stimmzettel nach Stimmen sortieren. Ich musste bremsen. In dem Leitfaden war eine ganz bestimmte Vorgehensweise beschrieben. 1. Stimmzettel zählen, 2. Sortierung der Stimmzettel auf drei Stapel (gültig, leer und Kuriositäten), 3. Zählung der einzelnen Stapel, 4. Entscheidungen im Wahlvorstand über gültig und ungültig. Und alles immer schön in der Niederschrift festhalten. Dann erst wird richtig ausgezählt.

Spannungen der Demokratie

Ich hatte schon etwas Ehrfurcht vor dem, was da passierte. Immerhin war es ein wichtiger Vorgang der Demokratie. Für mich wirkte die Auszählung allerdings chaotisch. Nach meiner Beobachtung wurde aber glücklicherweise das richtige Ergebnis ermittelt. Auf Druck der Hausfrau ließen wir allerdings die Plausibilitätsprüfung weg. Das passe schon, wie sie es selbst als mit Hausfrauen-Logik bezeichnend begründete. Ich weiß nicht, was die Schriftführerin letztendlich eingetragen hat. Diese Prozedur musste dann für die Auszählung der Ratswahl und der Bezirksvertretungswahl ebenfalls durchgeführt werden. Am Ende war es mir egal, wenn es nicht exakt nach Lehrbuch ging. Letztendlich konnten wir uns über fast 15 Prozent Wahlbeteiligung in unserem Stimmbezirk freuen. Und ich war auch froh, als dieser Tag zu Ende ging.

Mein Leben in der Bubble

Mein Einsatz als Wahlhelfer bei der Kommunalwahl in Köln hat mir die Demokratie praktisch vor Augen geführt. Demokratie ist etwas Analoges, und zwar nicht, weil Demokratie nichts mit der digitalen Welt zu tun hat. Es ist der Vorgang der Demokratie, der analog und ohne Kodierung durch Formate, Plattformen oder Bildungsabschlüsse funktioniert. Ich habe festgestellt, dass ich selbst ein Bürokrat bin und ich mich oft innerhalb meiner Bubble und auf meinem Elfenbeinturm befinde.

Der Tag war für mich furchtbar und ich möchte mit einigen dieser Menschen nie wieder aufeinandertreffen. Es hat mir gezeigt, dass ich zur Bewahrung der Demokratie diese Menschen nicht ändern soll, sondern sie ertragen und somit im wörtlichsten Sinne tolerant sein muss. Analoge Demokratie bedeutet Transparenz der eigenen Toleranz. Ich bin an meine Grenzen des Ertragbaren gekommen, aber ich kann nur dann ertragen, wenn etwas über mein Empfinden hinausgeht. Ich bin es selbst, der sich durch Abgrenzung distanziert, weil ich nicht ertragen kann und damit intolerant bin.

Nachtrag und Mahnung

Zwei Wochen später gab es eine Stichwahl, zu der ich erneut hinmusste. Es war fast dasselbe Team vor Ort. Ich erfuhr, dass von der Latexhose im vergangenen Jahr die Mutter in einer Klinik verstorben war. Dieser Aspekt ist keine Entschuldigung für extreme Positionen oder Verhalten. Aber es wäre der Ansatzpunkt für den Beginn eines Gespräches. Auch wenn ich das Gespräch dann nicht führen will, muss ich so oder so tolerant sein. Toleranz ist also nicht die Gegenrede oder das Gespräch, sondern das Ertragen in Reinform. Engagement ist nicht die bloße Bekundung von Solidarität oder das Setzen eines Zeichens. Engagement verlangt die Suche nach dem Ansatzpunkt für den Beginn eines Gespräches und dann dieses Gespräch auch zuzulassen.

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